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Die Schweiz wächst – und mit ihr der Bedarf an Wohnraum. Gleichzeitig muss der Gebäudesektor seinen CO2-Ausstoss drastisch senken. Zwischen Verdichtung, neuen Baustoffen und Kreislaufwirtschaft steht die Bauwirtschaft vor einer doppelten Herausforderung: mehr Wohnraum schaffen und dabei klimafreundlicher werden.
9’082’848. So viele Menschen lebten laut Bundesamt für Statistik (BFS) am 30. Juni 2025 in der Schweiz. Jedes Jahr wächst die Einwohnerzahl um rund 1 Prozent, derzeit also um etwa 90’000 Menschen. Gemäss dem Referenzszenario des BFS wird die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz bis zum Jahr 2040 auf 10 Millionen anwachsen. Am stärksten wächst die Bevölkerung in den Ballungsräumen Zürich und Genf.
All diese Menschen müssen irgendwo wohnen. Knapp 47 Quadratmeter Wohnfläche beansprucht ein Mensch in der Schweiz durchschnittlich. Bleibt dieser Wert konstant, müssen in den kommenden 15 Jahren grob geschätzt 45 Quadratkilometer Wohnfläche neu geschaffen werden. Zum Vergleich: Die Stadt Zürich hat eine Fläche von knapp 88 Quadratkilometern. Gleichzeitig steht die Schweiz vor der Mammutaufgabe, ihre Volkswirtschaft – und damit auch ihren Gebäudepark – zu dekarbonisieren. Dieser ist Schätzungen zufolge immer noch für etwa ein Drittel der inländischen Treibhausgasemissionen verantwortlich.
Die Bauwirtschaft sieht sich mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert: Einerseits muss sie in hohem Tempo neuen Wohnraum schaffen, andererseits muss sie sich vor dem Hintergrund des Klimawandels neu erfinden. Die bisherige, ressourcen- und treibhausgasintensive Bauweise muss einem neuen Paradigma weichen, das auf dem Einsatz klimafreundlicher Rohstoffe, Kreislaufwirtschaft und erneuerbaren Energien basiert. Und als ob das nicht genug wäre, muss zumindest ein Teil des neuen, umweltfreundlichen Wohnraums auch noch bezahlbar bleiben.
So schwierig diese Mission auf den ersten Blick auch erscheinen mag, unmöglich ist sie nicht. Verdichten, statt neue Bauflächen zu erschliessen, modernisieren, statt neu zu bauen, der Einsatz umweltfreundlicher Rohstoffe statt Stahl und Beton und eine Umorientierung von der Wegwerf- zur Kreislaufwirtschaft. Die Lösungsansätze sind bekannt. Es gilt «nur», sie konsequent umzusetzen.
Verdichten ohne zu verdrängen
Ein Kernziel der Schweizer Raumplanung ist der Schutz unbebauten Landes. Deshalb ist die Schaffung neuen Wohnraums in der Regel gleichbedeutend mit Verdichtung. Insbesondere in den Städten entstehen neue Wohnungen vorwiegend durch Ersatzneubauten, Aufstockungen oder die Umnutzung ehemaliger Industrie- und Gewerbezonen – und kaum noch auf bisher unbebautem Land. Besonders effizient verdichten Basel, Lausanne und Genf. Dort entstehen pro abgebrochener Wohnung 1,6- bis 2-mal so viele neue Wohnungen wie in Zürich oder Bern. Das zeigt eine Studie der Forschungsgruppe Raumentwicklung und Stadtpolitik der ETH Zürich.
Der Leiter der Forschungsgruppe, David Kaufmann, weist darauf hin, dass verdichtetes Bauen auch negative Folgen haben kann. Derzeit erfolge es vor allem über Ersatzneubauten und Totalsanierungen. Dabei würden ärmere Menschen aus ihren Wohnungen verdrängt. «Hier ist die Schweiz noch nicht auf Kurs», meint der ETH-Assistenzprofessor. «Instand halten, umbauen, aufstocken oder etappenweise renovieren sei nicht nur ökologischer als abreissen und neu bauen, sondern auch sozial verträglicher, weil die Menschen in ihren Wohnungen bleiben können», sagt Kaufmann. Es brauche es eine sozial-ökologische Perspektive in der Baukultur. «Bauen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die wir sorgfältig planen und gemeinsam verantworten müssen.»
Hochhäuser aus Holz und Lehm
Mindestens ebenso wichtig, wie die Frage, wie und wo gebaut wird, ist die Frage, womit. Noch wird weltweit vor allem mit Beton und Stahl gebaut – mit gravierenden Folgen für das Klima, denn die Herstellung dieser Materialien verursacht enorme Mengen an CO2. Deshalb suchen Forschende und Architekten nach Alternativen und besinnen sich dabei auf traditionelle Baustoffe wie Lehm, Holz oder Stroh. Diese sind reichlich vorhanden oder wachsen nach und binden dabei CO2. In der Schweiz fallen beispielsweise jedes Jahr Millionen Tonnen lehmhaltiger Aushub an, der meist deponiert wird. Würde man diesen Boden als Baumaterial nutzen, könnten Ressourcen geschont, Transporte vermieden und Kosten reduziert werden.
Der ETH-Professor und Architekt Roger Boltshauser arbeitet beispielsweise mit Stampflehm und hybriden Konstruktionen aus Lehm und Holz. «Unser Ziel ist, Lehm vermehrt in Tragstrukturen wie Wänden oder Decken grossflächiger verbauen zu können», sagt Boltshauser. Heute sind Stampflehmbauten normalerweise zwei- oder dreigeschossig. Theoretisch könnte man sie aber vierzig Meter hoch bauen, so Boltshauser.
Auch Holz erlebt einen Aufschwung: Bei Ein- und Zweifamilienhäusern wächst der Anteil an Holzkonstruktionen stetig, in Städten wird das leichte Baumaterial gerne für Aufstockungen verwendet und auch erste Hochhausprojekte sind in Planung. Mit Holz sollte noch viel mehr gebaut werden. Das meint zumindest Ingo Burgert, Co-Leiter der Forschungsgruppe WoodTec an der Empa. «Wenn es uns gelingt, mehr Holz zu verbauen, bei gleichzeitigem Erhalt einer nachhaltigen Forstwirtschaft, wird zusätzliches CO2 über mehrere Jahrzehnte im Gebäudebestand eingelagert», erklärt der Empa-Forscher.
Eine Herausforderung beim Bauen mit traditionellen Materialien besteht darin, die altbekannten Stoffe mit modernen Bauanforderungen in Einklang zu bringen. «Wenn wir Erde, Holz oder Stroh im heutigen wirtschaftlichen Kontext verwenden und dabei die Erwartungen der Nutzenden hinsichtlich Qualität, Dauerhaftigkeit, Wirtschaftlichkeit, Ästhetik und Komfort erfüllen wollen, können wir diese Stoffe nicht mehr auf dieselbe Weise verarbeiten wie vor 200 Jahren» sagt ETH-Professor Guillaume Habert. Damit traditionelle Materialien im grossen Stil eingesetzt werden können, sind neue, effiziente Fertigungsprozesse gefragt. Vorproduktion, Automatisierung und neue digitale Technologien senken Kosten und erleichtern die Integration in moderne Bauprojekte.
Kreislaufwirtschaft auch auf dem Bau
Abriss und Neubau gelten vielerorts noch als selbstverständlich, doch dabei entstehen hohe CO2-Emissionen und wertvolle Ressourcen werden verschwendet. ETH-Professorin Catherine De Wolf fordert deshalb, weniger abzureissen und stattdessen zu renovieren oder zu erweitern. Wo ein Abriss unvermeidlich ist, sollten Bauteile wiederverwendet werden.
Das vorhandene Potenzial sei bei Weitem nicht ausgeschöpft, sagt De Wolf. «Zum Beispiel wird viel Holz oft einfach verbrannt, obwohl es eigentlich ein leicht wiederverwendbares Material wäre.» Beton werde zerkleinert, obwohl es auch möglich wäre, Betonplatten auszuschneiden und diese als Wände oder Bodenplatten wiederzuverwenden.
Wiederverwendung ist jedoch oft teurer und aufwendiger als Neubau, Demontagen erfordern viel Handarbeit und passende Abnehmer für gebrauchte Materialien sind schwer zu finden. Hinzu kommen technische und rechtliche Fragen, etwa nach der Tragfähigkeit alter Stahlträger oder der Schadstofffreiheit von Holz. De Wolf plädiert für Roboter, die Bauteile präzise zurückbauen, sowie für digitale Materialpässe und einen Marktplatz für wiederverwendbare Baustoffe. Auch modulare Bauweisen könnten Reparatur und Rückbau erleichtern.
Konservative Branche muss umdenken
Unterstützung erhält De Wolf von ihrem ETH-Kollegen Prof. Arno Schlüter. Nachhaltigkeit müsse beim Bauen von Anfang an mitgedacht werden, fordert der Architekt. «Eine nachhaltige Lösung beginnt beim Entwurf: Position und Form eines Gebäudes, sein Umfeld, welche Materialien verwendet werden, welche erneuerbare Energiequellen zur Verfügung stehen.» Ein Umdenken in der Baubranche findet statt, vielleicht aber nicht schnell genug: «Das Bauen ist sehr konservativ», sagt Schlüter. Das liege daran, dass die Branche sehr lokal und verteilt sei, und es zahlreiche Akteure gebe. Solange diese nicht auf dem gleichen Wissensstand seien, gebe es nur einen minimalen Konsens. Zudem koste die neue Art des Bauens mehr Geld. «Viele Leute bauen einmal im Leben mit einem begrenzten Budget, da ist man weniger bereit, Experimente zu machen.»
Die Bauwirtschaft muss nachhaltiger werden
- Gegenüber dem vorindustriellen Durchschnitt (1871–1900) haben die Temperaturen in der Schweiz um 2,9 °C zugenommen.
- Mehr als die Hälfte der Wohngebäude in der Schweiz wird mit Öl oder Gas beheizt.
- Mehr als die Hälfte aller Gebäude sind Einfamilienhäuser.
- Mehr als die Hälfte aller Einfamilienhäuser wird von einer oder von zwei Personen bewohnt.
- Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person beträgt 46,6 m².
- Der Gebäudepark verursacht rund ein Drittel der inländischen Treibhausgasemissionen.
- Der Anteil der Gebäude mit einer Wärmepumpe hat sich seit dem Jahr 2000 verfünffacht.
- Die Emissionen im Gebäudesektor lagen im Jahr 2023 um 46 Prozent unter dem Wert im Jahr 1990.
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