Mit KI zu grünem ­Zement

Redaktion
Text | Benjamin A. Senn, PSI    Bilder | Markus Fischer
Die Zementindustrie verursacht rund acht Prozent der globalen CO2-Emissionen – das ist mehr als der gesamte weltweite Flugverkehr. Forschende am Paul-­Scherrer-Institut haben ein KI-gestütztes Modell entwickelt, mit dem sich neue Rezepturen für Zement schneller entdecken lassen – bei gleicher Material­qualität und einer besseren CO2-Bilanz.
Zement vermischt mit Wasser, Sand und Kies wird zu Beton – dem meistgenutzten Baustoff der Welt. Doch die Herstellung von Zement verursacht grosse Mengen an Kohlendioxid.

Zement ist das, was unsere Welt im Innersten zusammenhält. Das unscheinbare Pulver vermischt mit Sand, Kies und Wasser wird zu Beton – einem Baustoff, der sich nahezu überallhin transportieren und in fast jede erdenkliche Form giessen lässt. Beton ist multifunktional und beständig und deshalb aus unserer Infrastruktur nicht wegzudenken.

Die schiere Menge an Zement, die dafür benötigt wird, lässt sich dabei kaum erfassen. «Überspitzt ausgedrückt, verbraucht die Menschheit heute mehr Zement als Nahrung – rund eineinhalb Kilogramm pro Person und Tag», sagt John Provis, Leiter der Forschungsgruppe für Zementsysteme am Paul-Scherrer-Institut PSI. «Das sind unvorstellbare Mengen. Wenn wir das Emissionsprofil nur um ein paar Prozent verbessern könnten, würde dies in Bezug auf das Kohlendioxid einer Reduzierung von Tausenden oder gar Zehntausenden von Autos entsprechen», so der Zementchemiker.

«Anstatt Tausende ­Varianten im Labor zu testen, generiert unser Modell ­innerhalb von Sekunden ­konkrete Rezeptvorschläge – wie ein digitales Kochbuch für klimafreundlichen ­Zement.»

PSI-Mathematikerin Romana Boiger

Mit infernalischen 1400 Grad Celsius werden die Drehöfen in den Zementwerken eingeheizt, um aus gemahlenem Kalkstein Klinker zu brennen, der Grundstoff für baufertigen Zement. Wenig überraschend: Solche Temperaturen lassen sich nicht einfach aus der Steckdose beziehen. Sie entstehen durch energieintensive Verbrennungsprozesse – und setzen dabei grosse Mengen Kohlendioxid frei. Überraschend hingegen: Die Verbrennung ist für nicht einmal die Hälfte der gesamten CO2-Emissionen verantwortlich. Der Grossteil davon ist in den Rohstoffen enthalten, die für die Herstellung von Klinker und Zement benötigt werden: CO2 ist chemisch im Kalkstein gebunden und wird bei der Umwandlung in den heissen Öfen freigesetzt.

Simulationen statt aufwendiger Experimente

Hier an der Rezeptur zu feilen und durch das Beimischen von alternativen zementartigen Materialien den Anteil an Klinker zu verringern, ist eine vielversprechende Strategie. Genau das hat ein interdisziplinäres Forschungsteam am Zentrum für Nukleare Technologien und Wissenschaften am PSI im Labor für Endlagersicherheit nun untersucht. Statt auf aufwendige Experimente und langwierige Simulationen setzten die Forschenden auf eine eigens dafür entwickelte KI-gestützte Modellierungsmethode. «Damit können wir Zementrezepturen simulieren und so optimieren, dass sie bei gleich hoher mechanischer Qualität deutlich weniger CO2 ausstossen», erklärt PSI-Mathematikerin Romana Boiger. «Anstatt Tausende Varianten im Labor zu testen, generiert unser Modell innerhalb von Sekunden konkrete Rezeptvorschläge – wie ein digitales Kochbuch für klima­freundlichen Zement.»

Mit ihrem neuartigen Ansatz konnten die Forschenden gezielt jene Zementrezepturen herausfiltern, die die gewünschten Kriterien erfüllen. «Die Bandbreite möglicher Materialzusammensetzungen – die letztlich die Eigenschaften des Zements bestimmen – ist enorm», sagt Nikolaos Prasianakis, Leiter der Gruppe Transportmechanismen am PSI. «Unsere Methode ermöglicht es, den Entwicklungszyklus deutlich zu beschleunigen, indem vielversprechende Kandidaten ausgewählt und gezielt in experimentellen Untersuchungen weiterverfolgt werden.»

Ein Zementchemiker, eine Mathematikerin und ein Ingenieur (v. l. n. r.): John Provis, Romana Boiger und Nikolaos Prasianakis. Nur dank Interdisziplinarität konnten die Forschenden ihren KI-gestützten Optimierungsansatz entwickeln.

Die richtige Rezeptur

Bereits heute werden Sekundärrohstoffe wie Schlacke aus der Roheisengewinnung oder Flug­asche aus der Kohleverbrennung in die Zementrezeptur beigemischt, um Klinker zu sparen und damit die CO2-Emissionen zu reduzieren. Der globale Bedarf an Zement ist jedoch so gigantisch, dass diese Nebenprodukte nur einen Bruchteil davon abdecken können. «Was wir brauchen, ist die richtige Kombination an Materialien, die in grossen Mengen verfügbar sind und aus denen sich hochwertiger und zuverlässiger Zement produzieren lässt», sagt John Provis, Leiter der Forschungsgruppe für Zementsysteme am PSI.

Solche Kombinationen zu finden, ist jedoch anspruchsvoll: «Zement ist im Grunde ein mineralisches Bindemittel – im Beton erzeugen wir mit Zement, Wasser und Kies künstlich Minerale, die das gesamte Material zusammenhalten», erklärt Provis. «Man könnte sagen: Wir betreiben Geologie im Zeitraffer.» Diese Geologie oder besser gesagt die dahinterliegenden physikalischen Prozesse sind enorm komplex und ihre Modellierung am Computer dementsprechend rechenintensiv und teuer. Deshalb setzten die Forscher auf künstliche Intelligenz.

Die für das Training der KI benötigten Daten ­erstellten sie selbst: «Mithilfe der am PSI entwickelten Open-Source-Software GEMS für thermodynamische Modellierung berechneten wir für verschiedene Zementrezepturen, welche Mineralien sich beim Aushärten bilden und welche geochemischen Prozesse dabei stattfinden», erklärt Nikolaos Prasianakis. Durch die Kombination dieser Ergebnisse mit experimentellen Daten und mechanischen Modellen konnten die Forschenden einen verlässlichen Indikator für die mechanischen Eigenschaften ableiten – und damit für die Materialqualität des Zements. Zusätzlich wurde für jede eingesetzte Komponente ein zugehöriger CO2-Faktor, ein spezifischer Emissionswert, herangezogen, um den Gesamt-CO2-Ausstoss zu ermitteln.

Rezepturen mit Potenzial

Mit den so erzeugten Daten konnte das KI-Modell lernen. «Statt Sekunden bis Minuten schaffen wir mit dem trainierten Netzwerk die Berechnung der mechanischen Eigenschaften für ein beliebiges Zementrezept in Millisekunden – also rund tausendmal schneller als beim klassischen Modellieren», erklärt Mathematikerin Boiger.

Unter den von den Forschenden identifizierten Zementrezepturen finden sich bereits vielversprechende Kandidaten. «Einige dieser Rezepturen haben echtes Potenzial», sagt John Provis. «Nicht nur in Bezug auf CO2-Einsparung und Qualität, sondern auch, was die praktische Umsetzbarkeit in der Produktion betrifft.» Um den Entwicklungszyklus abzuschliessen, müssen die Rezepte jedoch erst noch im Labor getestet werden. «Wir bauen jetzt nicht gleich einen Turm damit, ohne sie vorher zu prüfen», schmunzelt Nikolaos Prasianakis.

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