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Die Wiederverwendung bestehender Materialien ist eine Möglichkeit, den Kohlenstoffausstoss zu verringern. Doch bisher geben in der Bauindustrie lineare Wirtschaftsmodelle den Ton an.
17 Millionen Tonnen. So viel Abbruchmaterial fällt jedes Jahr in der Schweiz an. Laut Bundesamt für Umwelt (BAFU) werden davon etwa zwei Drittel wiederverwertet. Mehr als fünf Millionen Tonnen befinden sich noch nicht in einem Kreislauf, so das BAFU. Mit anderen Worten: Sie wandern in den Müll.
Nach wie vor folgen grosse Teile des Bausektors einem linearen Wirtschaftsmodell: Baumaterialien werden abgebaut, verarbeitet, verwendet und schliesslich entsorgt. Damit einher gehen ein hoher Ressourcenverbrach und eine hohe Belastung für Umwelt und Klima. Einen möglichen Ausweg könnte die Abkehr von diesem linearen Prinzip hin zur Kreislaufwirtschaft bieten. «Nichts soll verloren gehen», so könnte man den Grundgedanken hinter der Kreislaufwirtschaft umschreiben. Produkte werden so lange wie möglich genutzt. Am Ende der Lebensdauer sollten ganz oder zumindest teilweise wiederaufgearbeitet und einer neuerlichen Nutzung zugeführt werden können. Wo das nicht möglich ist, sollten zumindest die Rohstoffe recycelt werden können, und zwar möglichst gleichwertig. Downcycling, also eine Wiederverwendung der Rohstoffe in minderer Qualität für weniger anspruchsvolle Produkte, sollte vermieden werden.
«Die Wiederverwendung von Baumaterialien ist eine Frage des gesunden Menschenverstandes», sagt EPFL-Professor Corentin Fivet in einem Beitrag auf der Webseite der Hochschule. Fivet leitet das Structural Xploration Laboratory (SXL) der EPFL. Am 1. April 2024 hat er zudem die akademische Leitung des Smart Living Lab in Fribourg übernommen, das sich unter anderem auf diesen Forschungsbereich konzentriert.
Die Wiederverwendung von Baustoffen und -teilen sei vor der industriellen Revolution gängige Praxis gewesen, weil die Herstellung von Materialien von Grund auf so viel mehr kostete, so Fivet weiter. «Heute ist das leider nicht mehr der Fall. Im Gegenteil: Die Wiederverwendung von Materialien ist teurer geworden, weil sie nicht zur Routine gehört.»
In der Schweiz gibt es eine Reihe von Umnutzungsinitiativen wie beispielsweise die Pläne zur Umwandlung eines ehemaligen Fiat-Werks in Genf in ein kombiniertes Wohn- und Geschäftsviertel. Die Architekturfachleute haben bereits viele Komponenten des alten Werks wiederverwendet, wie etwa das Stadtmobiliar und strukturelle Elemente – einschliesslich einiger Betonplatten, die nun Teil des Gebäudes sind, in dem das Smart Living Lab untergebracht ist. «Es handelt sich immer noch um einen Nischenmarkt, und wir müssen mehr Erfahrungen sammeln, mehr technische und wirtschaftliche Machbarkeitsstudien durchführen und mehr Beweise sammeln, um zu zeigen, dass gebrauchte Baumaterialien immer noch einen Wert haben und anstelle von neuen verwendet werden können», so Fivet.
Die Forschung hat bereits gezeigt, dass die Wiederverwendung tragender Strukturen erhebliche Vorteile für die Umwelt mit sich bringen kann, da diese Strukturen in grosser Zahl verwendet werden und ihre Herstellung sehr umweltbelastend ist: «Wenn wir die Emissionen ernsthaft reduzieren wollen, können wir nicht nur Blumentöpfe und Teppiche wiederverwenden», sagt Fivet. Es ist immer nachhaltiger, etwas bereits Vorhandenes zu verwenden, auch wenn es in der Herstellung nicht umweltfreundlich war. Eine aktuelle SXL-Studie ergab, dass die Wiederverwendung von Betonplatten bis zu 90 Prozent weniger Treibhausgasemissionen verursacht als die Herstellung neuer Platten.
Wiederverwenden nutzt nicht nur dem Klima
Abgesehen von den Vorteilen für die Bauindustrie schafft die Wiederverwendung von Materialien einen positiven Kreislauf, da sie die lokale Wirtschaft unterstützt und neue Arten von Arbeitsplätzen auf allen Qualifikationsniveaus schafft: «Die Arbeiter sind darin geschult, wie man etwas baut, aber nicht, wie man es wieder abbaut», so Fivet, «aber um Materialien richtig wiederzuverwenden, brauchen wir Kompetenzen in einer Reihe von Bereichen. Jeden Monat entstehen neue, lokal ausgerichtete Unternehmen und gemeinnützige Organisationen mit ganz unterschiedlichen Geschäftsmodellen.» Und es entstehen mehrere Websites, auf denen Menschen Elemente wie Waschbecken, Türen, Heizkörper und Möbel erwerben oder entsorgen können.
Der Trend treibt auch den Wandel in der Ausbildung voran: «Die Anforderungen an die Nachhaltigkeit sind so hoch geworden, dass wir heute nicht mehr die gleichen Baumethoden lehren können wie noch vor zehn Jahren», sagt Fivet. «Wir müssen alternative Ansätze einführen und unsere Standardmethoden überdenken.»
Kein Freifahrtschein
Fivet betont jedoch, dass die Möglichkeit der Wiederverwendung von Baumaterialien nicht als Freifahrtschein für die Errichtung von Gebäuden nach Belieben verstanden werden sollte: «Unsere Forschung hat bewiesen, dass Materialien wiederverwendet werden können, aber das bedeutet nicht, dass wir den Bauherren einen Freibrief ausstellen können. Das ist vergleichbar mit dem Problem, das wir bei Plastikflaschen beobachten – die Leute denken, da sie recycelt werden können, spricht nichts dagegen, sie einfach weiterzuverwenden», sagt er und fügt hinzu, dass der erste Schritt zur Verringerung des CO2-Fussabdrucks der Bauindustrie darin bestehe, bestehende Gebäude zu erhalten. Wenn Gebäude abgerissen werden müssen, sollten die Architekturfachleute versuchen, so viele Komponenten wie möglich wiederzuverwenden, um die physikalischen Eigenschaften der Materialien zu erhalten. Recycling sollte nur für die verbleibenden Komponenten in Betracht gezogen werden, da Recyclingprozesse im Allgemeinen viel Energie erfordern und mehr Umweltverschmutzung verursachen als die Wiederverwendung.
Allerdings sind der Wiederverwendung von Baumaterialien Grenzen gesetzt. In der Schweiz werden zum Beispiel sechs- bis siebenmal mehr Gebäude gebaut als abgerissen. Bauherren müssen weniger und vor allem verantwortungsvoller bauen. Das bedeutet, dass bestehende Gebäude nicht durch solche ersetzt werden dürfen, die im Wesentlichen gleich sind oder die zwar grösser und moderner sind, aber nur die gleiche Anzahl von Bewohnenden aufnehmen können. «Solche Entscheidungen sind angesichts der notwendigen Anstrengungen zur Bekämpfung der globalen Erwärmung nicht sinnvoll», sagt Fivet, «das ist den Wissenschaftlerinnen klar, aber wir müssen es auch den Bauherren und der Öffentlichkeit klarmachen.»
Nachhaltiges Bauen lernen
Im Rahmen des EPFL-Projekts rebuiLT haben sich Studierende vorgenommen, die Vorteile von Low-Tech-Methoden zu demonstrieren, ohne dabei Kompromisse bei der Qualität einzugehen. Sie haben Bauteile von mehreren Bauwerken, darunter ein Gebäude aus den 1970er-Jahren, das abgerissen werden sollte, geborgen und verwenden die Materialien für den Bau eines Pavillons in Ecublens wieder. In einem ähnlichen Projekt errichteten Studierende der ETH Zürich unter Leitung der Professorinnen Catherine De Wolf und Momoyo Kaijima mit Materialien der abgerissenen Huber Pavillons den Re-Use-Pavillon auf dem ETH-Campus Hönggerberg. Der Pavillon ist inzwischen mit dem Schweizer Architekturpreis Arc Award in der Kategorie «Next Generation» ausgezeichnet worden.
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